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In Österreich leben derzeit rund 700.000 Menschen mit einer Depression. Im Interview erklärt der Innsbrucker Depressionsforscher Alexander Karabatsiakis, wie Depressionen entstehen können, welche psychologischen, biologischen und soziale Risikofaktoren es gibt und warum eine frühzeitige Behandlung wichtig ist. Der europäische Aktionstag am 5. Oktober möchte für das Thema Depression in einer immer rastloseren Welt sensibilisieren.
In Österreich leben derzeit rund 700.000 Menschen mit einer Depression. Im Interview erklärt der Innsbrucker Depressionsforscher Alexander Karabatsiakis, wie Depressionen entstehen können, welche psychologischen, biologischen und soziale Risikofaktoren es gibt und warum eine frühzeitige Behandlung wichtig ist. Der europäische Aktionstag am 5. Oktober möchte für das Thema Depression in einer immer rastloseren Welt sensibilisieren.
Herr Karabatsiakis, die heutige Welt ist geprägt von ständiger Erreichbarkeit, Zeitdruck und Digitalisierung – all das trägt zu einer rastlosen Lebensweise bei. Wie wirkt sich diese Dynamik auf die psychische Gesundheit aus, insbesondere im Hinblick auf Depressionen?
Alexander Karabatsiakis: Körper und Geist folgen bei der Bewältigung von Aufgaben und Herausforderungen des Alltags einem körpereigenen Rhythmus, dem sogenannten zirkadianen Rhythmus. Dieser ist bestimmt durch den Tag-Nacht-Wechsel und die Menge an Tageslicht, der wir als Signalgeber ausgesetzt sind.
Die einzelnen Körperfunktionen können dabei als Instrumente eines Orchesters betrachtet werden, dessen qualitative Leistung und Präzision von dieser Regulation abhängen. Für die gesundheitliche Stabilität ist ein Prinzip essentiell: Tagsüber verbrauchen wir Energie, die nachts im Schlaf regeneriert werden muss. Stressbelastungen wie ständige Erreichbarkeit, Zeitdruck und Digitalisierung des Alltags führen zu einem Prozess der Veränderungen gesundheitsrelevanter Lebensgewohnheiten, darunter Schlaf (Dauer und Qualität), körperliche Bewegung, psychosoziale Interaktionen (Freunde treffen, gemeinsame Aktivitäten in der Natur), Ernährung oder auch des oftmals übermäßigen Konsums von Alkohol und Zigaretten als „maladaptives Coping“.
Über die Zeit entwickelt sich dadurch ein Zustand körperlicher und geistiger Erschöpfung, und in der Folge leidet auch das psychische Funktionsniveau, da sich diese Prozesse auf das Wohlbefinden auswirken und eine Abwärtsspirale einleiten können, die häufig in einer Depression endet.
Wie beeinflussen psychologische, biologische und soziale Faktoren die Resilienz oder das Risiko, an einer Depression zu erkranken?
Karabatsiakis: Grundlagenwissenschaft und klinische Forschung sind sich mittlerweile einig, dass es nicht „den einen“ Faktor für das Auftreten einer Depression gibt. Vielmehr ist das Entstehen und die Manifestation einer Depression bedingt durch die Chronizität des Wechselspiels von psychischen, biologischen und sozialen Risikofaktoren. Diagnostik und Versorgung von psychischen Erkrankungen wie die der Depression schauen dabei immer stärker auf individuelle Aspekte wie psychische Belastungen, chronischen oder traumatischen Stress oder auch Persönlichkeitsmerkmale wie Neurotizismus (psychologische Faktoren).
Bei der Erforschung bedeutsamer biologischer Faktoren spielen neben der Genetik und Epigenetik auch das Immunsystem sowie die zelluläre Bioenergetik eine stark zunehmende Rolle, die sich auch zu wichtigen Forschungsschwerpunkten an der Universität Innsbruck entwickeln. Soziale Risikofaktoren, darunter eine geringe Schulbildung, wenige soziale Kontakte oder Ressourcen und daraus abgeleitet auch Belastungen wie Isolation und Einsamkeit (Epidemien des 21. Jahrhunderts), können einen gesundheitlichen Abwärtstrend mit beschleunigen.
Bei all diesen negativen Aspekten ist allerdings wichtig zu betonen, dass es auf der Seite der Widerstandsfähigkeit (Resilienz) auch viele Möglichkeiten gibt, wie man sich beispielsweise mittels Selbstwirksamkeit und Achtsamkeit auch schützen kann. Besonders im Kindes- und Jugendalter ist es wichtig, dazu gesundheitliche Aufklärung zu betreiben, da hier häufig psychische Überbelastungen auftreten und Soziale Medien und Messenger-Dienste eine große Rolle spielen.
Welche Rolle spielen persönliche Erfahrungsberichte von Betroffenen bei der Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen?
Karabatsiakis: Der jährlich organisierte Europäische Depressionstag (European Depression Day) zum 1. Sonntag im Oktober hat das Ziel, die Gesellschaft über die Volkskrankheit Depression zu informieren. Dabei sind wir auch immer sehr dankbar, Erfahrungsberichte aus erster Hand von Betroffenen direkt und unvermittelt teilen zu können, denn leider wird die Depression auch heute noch viel zu oft als „mangelhafte“ Eigenschaft eines Menschen wahrgenommen. Aussagen wie: „Stell dich nicht so an“, „Rauf dich mal zusammen“, „Geh doch einfach mal wieder raus“, sind für Betroffene dabei nicht hilfreich und schmerzhaft, weil sie sich dadurch nicht verstanden fühlen.
Stellen Sie sich Folgendes vor: Wenn Sie selbst an Kraftlosigkeit leiden, sich nicht motivieren können, und Ihnen der überfordernde Alltag mit all den kleinen Detailaufgaben jegliche Energie raubt, wie sehr würden Sie auf das Angebot eingehen, eine Runde spazieren zu gehen, wenn sie sich gleichzeitig fühlen, als seien Sie bereits einen Marathon gelaufen? Diese Belastungen, die Erfahrungen dahinter und die Umstände der eigenen Depression von einem betroffenen Menschen direkt vermittelt zu bekommen, sind somit äußerst wertvoll und machen das Ganze für die Gesellschaft nachvollziehbarer.
Wie hat sich die öffentliche Wahrnehmung von Depressionen in den letzten Jahren verändert?
Karabatsiakis: Allgemein ist zunächst festzustellen, dass sich die öffentliche Wahrnehmung immer mehr von einer Mikro- auf eine Makroebene der Gesellschaft verlagert hat. Vieles von dem, mit dem wir uns als Individuen viel und häufig beschäftigen, spielt sich dabei im Internet ab. Soziale Medien, aber auch Serien und Filme, Podcasts, Bücher und auch Musik greifen das Thema psychische Gesundheit und Depressionen auf und erzielen dabei eine sehr große Reichweite. Als Beispiel: Wir hatten im Rahmen des Europäischen Depressionstags 2022 die Sängerin und Künstlerin Madeleine Juno zu Gast, die unter anderem mit dem Lied „99 Probleme“ die Erfahrungen ihrer eigenen depressiven Erkrankung thematisiert, und das auf eine sehr ehrliche, direkte Weise, und das mit millionenfachen Clicks.
Der Zugang zu Informationen, die für die eigene Betrachtung von psychischer Gesundheit hilfreich sein können, ist dabei besonders für männliche Personen relevant, da es hier häufig zu einem versteckten Leidensdruck durch familiäre und berufliche Verantwortung kommen kann, über die „Mann“ nicht gerne oder nur sehr selten spricht.
Was möchten Sie den Menschen in Österreich mit auf den Weg geben, die selbst oder in ihrem Umfeld mit Depressionen konfrontiert sind?
Karabatsiakis: Wenn nichts mehr Freude bereitet, wenn die Nächte ohne Schlaf bleiben, man sich zu nichts aufraffen kann, bleibt nur eins: Nicht lange warten, und sich selbst nicht fälschlicherweise auf „eigene innere Stärken“ beziehen. Wenn der Leidensdruck zu hoch wird, nicht versuchen, sich darauf einzulassen, indem die Lebensgewohnheiten falsch angepasst werden. Wie bereits erwähnt, gilt dies vor allem für Männer, denn sie sind häufig schweigsamer und leiden dadurch länger und im Stillen.
Erste Anlaufstelle ist in der Regel der Hausarzt, bei dem nicht nur die Symptome der Belastung, sondern auch die ursächlichen psychischen Umstände geschildert werden sollten. Denn häufig ist es so, dass Probleme mit Bauch- und Kopfschmerzen, Magen-Darm-Beschwerden, Schlafstörungen oder Appetitlosigkeit behandelt werden, ohne dabei zu schauen, was als Ursache zu verstehen ist, und häufig ist es dann bereits eine depressive Erkrankung. Wenn aufgrund des eigenen Leidensdrucks oder des Leistungsabfalls kein Ausweg mehr gesehen wird, diese Veränderungen ausreichend sensitiv wahrnehmen, sich Hilfe suchen, denn es gilt, der eigenen Abwärtsspirale möglichst rasch etwas entgegenzustellen.
Alexander Karabatsiakis vom Institut für Psychologie der Universität Innsbruck ist Österreichs Repräsentant in der European Depression Association (EDA), die sich dafür einsetzt, das Bewusstsein der Bevölkerung für die Volkskrankheit Depression zu stärken. Mit einer Vielzahl von Veranstaltungen und Medienaktivitäten versucht der Europäische Depressionstag (European Depression Day) psychische Erkrankungen zu entstigmatisieren.
Medienhinweis: In einem Online-Pressegespräch am 2. Oktober 2025 von 11:00–12:30 Uhr wird Alexander Karabatsiakis aktuelle Daten zur Rolle von psychologischen, biologischen und sozialen Faktoren das Risiko. Registrierung: https://www.european-depression-day.de/presse/presse-aktuelles/